Internetnutzung: Wie suchtgefährdet sind die steirischen Schüler*innen und Erwachsenen?
Von Kinderrechte RedaktionInhaltsverzeichnis
Eine umfangreiche Studie liefert erstmals konkrete Zahlen
Rund ein Drittel der Schüler*innen und neun Prozent der Erwachsenen sind in Bezug auf ihr Internetverhalten suchtgefährdet.
Dies ist keineswegs gleichzusetzen mit „suchtkrank“, zeigt aber deutlich, dass es Sensibilisierung braucht. Land Steiermark und Gesundheitsfonds Steiermark setzen nun gezielte Maßnahmen, um die Gefahr von langfristigen Suchterkrankungen zu reduzieren und eine gesunde Internetnutzung zu fördern. Treffen mit Freund*innen werden via Whatsapp vereinbart, Filme online gestreamt und der Routenplaner hilft bei der Navigation: Online–Dienste sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Doch wie intensiv werden sie wirklich genutzt? Wo liegt die Grenze zwischen „zeitgemäßer Nutzung“ und Suchtgefährdung? Um fundierte Daten zu erheben und damit die Basis für gezielte Maßnahmen zu schaffen, hat der Gesundheitsfonds Steiermark eine umfassende Studie bei x–sample Sozialforschung beauftragt (Titel: „Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark“). Dazu wurden im Jahr 2022 rund 3.000 steirische Schüler*innen ab der siebten Schulstufe und rund 800 steirische Erwachsene befragt, wie sie digitale Geräte und Internet nutzen. Die zentralen Ergebnisse der repräsentativen Erhebungen:
- Bei 32 Prozent der Schüler*innen zeigen sich anwendungsübergreifend (Soziale Netzwerke, Spiele etc.) Suchtsymptome, die darauf hinweisen, dass sie suchtgefährdet sind („Prävalenz“). Signifikant höhere Prävalenzen zeigen sich bei schlechterer psychischer Gesamtkonstitution, stärkerer Neigung zur Langeweile, Angstproblematik, Schlafbeschwerden und höheren Tages– und Nachtnutzungsdauern. Ob diese Merkmale eine Folge des hohen Internetkonsums sind oder der hohe Internetkonsum z. B. schlechte psychische Gesamtkonstitution fördert, lässt sich aus der Studie nicht ableiten, da alle Merkmale zum gleichen Zeitpunkt erhoben wurden.
- 59 Prozent der Jugendlichen nutzen ihr Smartphone auch nach Mitternacht (an zumindest einem von fünf Abenden, denen ein Schultag folgt). Bei 18 Prozent zeigen sich klinisch relevante Schlafprobleme.
- Bei 9 Prozent der Erwachsenen zeigen sich anwendungsübergreifend Suchtsymptome, die darauf hinweisen, dass sie suchtgefährdet sind. Signifikant höhere Prävalenzen zeigen sich bei jüngeren Personen, Personen, bei denen Soziale Medien die dominante Internetanwendung darstellen, stärkerer Neigung zur Langeweile und höheren Nutzungsdauern. Wichtig: „Prävalenz für suchtgefährdete Nutzung“ ist NICHT gleichzusetzen mit „suchtkrank“, da eine klinische Diagnostik über die Erhebung nicht möglich war. Gesichert ist jedoch, dass am Nutzungsverhalten der o.a. 32 Prozent der Schüler*innen und neun Prozent der Erwachsenen suchthafte Prozesse beteiligt sind und die Online–Aktivitäten als Bewältigungsstrategie gegen unangenehme Stimmungen angewandt werden. Suchthafte Prozesse sind z. B. Kontrollverlust, daraus resultierende berufliche/schulische und zwischenmenschliche Konflikte, gedankliche Einengung. Weitere Studienergebnisse und Details siehe unten.
Man ist online, obwohl man es eigentlich gar nicht will und weiß, dass es einem nicht guttut. Der ganze Alltag ist gedanklich geprägt von der nächsten Online–Nutzung. Man wird unruhig und aggressiv, wenn man keinen Zugang zum Internet hat.
Details zur Studie
Ob diese Merkmale eine Folge des hohen Internetkonsums sind oder der hohe Internetkonsum z.B. schlechte psychische Gesamtkonstitution fördert, lässt sich aus der Studie nicht ableiten, da alle
Merkmale zum gleichen Zeitpunkt erhoben wurden. Weitere signifikante, jedoch schwächere Zusammenhänge lassen sich bei höherem Nutzungsausmaß der Eltern, bei höherem Unwohlsein im Klassenverband sowie bei Schülerinnen und Personen mit anderer Geschlechterzuordnung feststellen.
- 36 Prozent der Schüler*innen klassifizieren sich selbst (also unabhängig vom CIUS–Screening) als suchtgefährdet oder süchtig. 22 Prozent machen sich aufgrund ihres Nutzungsausmaßes manchmal Sorgen, 7 Prozent haben aus diesem Grunde schon überlegt, Hilfe zu holen und 5 Prozent nahmen oder nehmen deswegen eine Beratung in Anspruch.
- Die Schüler*innen sind reichhaltig mit digitalen Geräten ausgestattet. Nahezu alle besitzen ein Smartphone (99 Prozent), 86 Prozent einen Computer, 70 Prozent einen Fernseher, 55 Prozent eine Spielkonsole und 46 Prozent ein Tablet. Das klar nutzungsdominante digitale Gerät in der Freizeit ist in allen Alters– und Geschlechtersubgruppen das Smartphone. 77 Prozent der Schüler*innen verbringen damit die meiste Zeit. Täglich verbringen sie im Medianschnitt 4,6 Stunden (nur freizeitbezogen, die schulische Nutzung ist dabei nicht inkludiert) mit ihrem nutzungsdominanten Gerät. 42 Prozent verbringen rein freizeitbezogen mehr als fünf Stunden täglich mit ihrem nutzungsdominanten Gerät, 4 Prozent mehr als zehn Stunden täglich.
- 59 Prozent der befragten Schüler*innen nutzen digitale Geräte an zumindest einem von fünf Abenden, denen ein Schultag folgt, nach Mitternacht, 31 Prozent an mindestens drei von fünf solchen Abenden. Die Altersunterschiede sind in diesem Zusammenhang nur marginal. 15 Prozent nutzen diese Geräte an allen fünf Abenden einer Woche, denen ein Schultag folgt, nach Mitternacht. Für den Großteil scheinen diese Geräte auch fixer Bestandteil des Einschlafrituals zu sein. 70 Prozent nutzen diese Geräte an allen fünf Abenden einer Woche, denen ein Schultag folgt, direkt vor dem Einschlafen. Rund zwei Drittel haben das Smartphone während des Schlafens unmittelbar neben sich (bei 19 Prozent im Empfangsmodus und nicht lautlos). Bei rund 18 Prozent lassen sich durch Verwendung des Screeninginstruments ISI (Insomnia Severity Index, deutschsprachige Fassung) klinisch relevante Schlafprobleme feststellen.
Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da die negativen längerfristigen Folgewirkungen von unzureichendem Schlaf auf die neurokognitive Entwicklung (Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Impulskontrolle) von Jugendlichen erst kürzlich in einer methodisch hochwertigen Studie in der Fachzeitschrift „The Lancet Child & Adolescent Health“ veröffentlicht wurden.
Soziale Medien (vorwiegend WhatsApp, Snapchat, Instagram, YouTube und TikTok) sind für 38 Prozent die nutzungsdominante Internetanwendung, und zwar unabhängig von der Geschlechterzuordnung und auch in allen Altersklassen, diese Dominanz ist jedoch bei Mädchen und bei älteren Schüler*innen noch ausgeprägter. Für Burschen und Personen mit anderer Geschlechterzuordnung sowie bei jüngeren Schüler*innen sind hingegen Spiele häufiger nutzungsdominant als für Mädchen bzw. ältere Schüler*innen.
Ergebnisse Erwachsene
Auch in der steirischen Erwachsenenpopulation erfolgte eine Prävalenzschätzung für suchtassoziiertes Nutzungsverhalten von digitalen Geräten und des Internets. Der Umfang der erhobenen Themen war hier allerdings deutlich reduzierter als bei den Schülerinnen und Schülern, da bei den Erwachsenen deutlich weniger Befragungszeit zur Verfügung stand.
Die Prävalenz für eine suchtgefährdende Nutzung des Internets liegt bei den Erwachsenen anwendungsübergreifend (Soziale Netzwerke, Spiele usw.) bei 9 Prozent (95 Prozent–Konfidenzintervall: 7 Prozent–11 Prozent). Signifikant höhere Prävalenzen zeigen sich bei
- jüngeren Personen,
- Personen, bei denen Soziale Medien die dominante Internetanwendung darstellen,
- stärkerer Neigung zur Langeweile und
- höheren Nutzungsdauern.
11 Prozent der steirischen Erwachsenen klassifizieren sich selbst (also unabhängig vom CIUS– Screening) als suchtgefährdet oder süchtig. 10 Prozent machen sich aufgrund ihres Nutzungsausmaßes manchmal Sorgen, 4 Prozent haben aus diesem Grunde schon überlegt, Hilfe zu holen und 3 Prozent nahmen oder nehmen deswegen eine Beratung in Anspruch. Auch die Erwachsenen–Zielgruppe verfügt über zahlreiche internetfähige digitale Geräte; im Schnitt haben sie 3,3 dieser Geräte in ihrem Besitz. Nahezu alle besitzen ein Smartphone (97 Prozent), 85 Prozent einen Computer, 68 Prozent einen Fernseher, 56 Prozent ein Tablet und 22 Prozent eine Spielkonsole.
Klar nutzungsdominant (für 66 Prozent) ist auch hier das Smartphone. Täglich verbringen die erwachsene Steirer*innen freizeitbezogen im Medianschnitt 2,5 Stunden mit digitalen Geräten, wobei es große Unterschiede in Abhängigkeit des Alters gibt (je jüngerer, desto höher die 1 Yang FN, Xie W, Wang Z (2022).
17 Prozent verbringen mehr als fünf Stunden täglich mit diesen Geräten, 9 Prozent mehr als zehn Stunden täglich. Die am häufigsten genutzten Internetanwendungen der steirischen Erwachsenen sind E–Mails lesen/schreiben, Chatapplikationen, Recherche von Informationen, Soziale Netzwerke, Einkaufen und Streaming von Video– und Audiomaterial.
Strategie für gezielte Maßnahmen – Etablierung eines Expert*innengremiums
Auch Ansätze für eine weitere Vorgehensweise waren Teil der Studie. Basis dafür waren neben den Erhebungen auch Literaturrecherchen und zwölf Interviews mit Expert*innen aus der Steiermark, aus Wien, Deutschland und der Schweiz. Das Ergebnis sind strategische Ziele bzw. Empfehlungen und Rahmenbedingungen für die Handlungsfelder Prävention, Früherkennung/–intervention und Behandlung. Um konkrete Maßnahmen umzusetzen, wird – ergänzend zu den bestehenden Beratungsangeboten – ein interdisziplinären und intersektoralen Expert*innengremium eingesetzt. Einen Zwischenbericht mit möglichen Maßnahmen soll dieses Gremium mit Frühsommer 2023 vorlegen, bis Anfang 2024 ist ein konkreter Aktionsplan vorgesehen.
Bestehende Beratungsangebote: Betroffene und Angehörige können sich bei Fragen zu suchthaftem Verhalten grundsätzlich an alle steirischen Suchthilfeeinrichtungen und sozialpsychiatrischen Einrichtungen wenden, Kontaktdaten siehe www.plattformpsyche.at.
Spezielle Kompetenzen zum Thema „Medien und Sucht“ bieten derzeit: VIVID – Fachstelle für Suchtprävention Umgesetzt werden u. a.: Seminaren zum Thema suchtgefährdete Internetnutzung für 561 Multiplikator*innen (Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Tageseltern, Mitarbeiter*innen in der Jugendarbeit) im Jahr 2022 Programme zur Lebenskompetenzförderung in elementarpädagogischen, schulischen und außerschulischen Einrichtungen, um auch bei den Ursachen und Motiven für suchtgefährdete
Internetnutzung anzusetzen Programme zur Förderung von Lebenskompetenzen: Diese fußen auf der Erkenntnis, dass soziale und psychologische Schutzfaktoren gezielt gefördert werden können, weil verbesserteLebensfertigkeiten die Bearbeitung von spezifischen Entwicklungsaufgaben und die Bewältigung von Krisen und Problemen erleichtern. Damit ist es unwahrscheinlicher, dass Menschen zu ihrer Bearbeitung Substanzen oder Verhaltensweisen mit Suchtpotenzial instrumentalisieren. In der Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen ist das Aufstellen von Regeln zum Medienkonsum und Vorbildverhalten ein zentrales Thema. 413 Eltern informierten sich 2022 in Vorträgen zu diesem Thema. Die Elternbroschüre „Über Medien reden. Was Eltern wissen sollten“ wurde 2022 fachlich und grafisch auf den neuesten Stand gebracht und steht auf unserer Webseite zum Download zur Verfügung.
17 Prozent aller von VIVID – Fachstelle für Suchtprävention durchgeführten Veranstaltungen beschäftigen sich im Jahr 2022 mit dem Schwerpunktthema Medienkompetenz. Das ist jene Fähigkeit, die es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortlich mit digitalen Medien umzugehen, 1189 Schüler*innen ab der Volksschule wurden 2022 im Rahmen von Workshops zum Thema Medienkompetenz sensibilisiert.
Quellen
- Fachstelle für Suchtprävention – www.vivid.at
- Drogenberatung des Landes Steiermark – www.drogenberatung.steiermark.at
- Suchtberatung Obersteiermark (Leoben) – www.suchtberatung–obersteiermark.at
- b.a.s. – Steirische Gesellschaft für Suchtfragen (Spezialthema „Medien und Sucht“) – www.bas.at
- Infos zur gesamten Studie: www.gesundheitsfonds–steiermark.at/internetstudie (PDF–Download, PDF-Folien)